2.

 

Der Bruch einer Freundschaft gehört wohl zu den schmerzlichsten Erfahrungen, die ein fühlendes Wesen je machen kann. Was natürlich nicht bedeutet, daß man diese in die Binsen gegangene Freundschaft nicht weiterhin nach Kräften ausbeuten sollte, solange es einem nützt.

Nach dieser Devise verfuhr ich in Gustavs Rucksack, eingequetscht zwischen schmutzigen Socken und Unterhosen, die dank ihrer Größe einer klammen Fallschirmspringer-Schule leicht aus der Bredouille geholfen hätten. Allzu bereitwillig den beruhigenden Worten der Walpurgisnachthexe vertrauend, hatte mein Ex-Freund die »Pension Pfote« so fluchtartig verlassen, als habe er sich seines kränkelnden Opas im Seniorenheim entledigt.

Der Opa klebte aber immer noch an seinen Fersen beziehungsweise steckte im Rucksack auf dem Rücksitz des Citroëns. Auf dem Weg zum Flughafen hatte ich hin und wieder Gelegenheit, meinen Kopf herauszulüpfen und den vorbeifliegenden monotonen Autobahnfilm zu betrachten, ohne selbst gesehen zu werden. Schon an den freudig hin- und herschwingenden Bewegungen des faltigen Nackens erkannte ich, daß der Fahrer das graue Einerlei hinter sich und damit auch meine Wenigkeit längst vergessen hatte. Was mich in meinem Vorhaben nur noch bestärkte! Nebenbei stellte ich mir das dumme Gesicht der Pensionstante vor, wenn sie mich nach stundenlangem Suchen immer noch nicht in ihrem »Arrangement« finden und ins Schwitzen darüber kommen würde, was sie ihrem Kunden in einem Monat über das Verschwinden von dessen Liebling erzählen sollte.

 

Wir erreichten den Flughafen, parkten in einer Sammelgarage und fuhren dann die Rolltreppe zum Terminal hoch. Obwohl ich vorher noch nie einen Flughafen betreten hatte, war ich von der riesigen Anlage nicht gerade überwältigt. Die Schule des Volkes, das Fernsehen, hatte auch mich anscheinend der letzten erlebbaren Abenteuer beraubt. Nichtsdestotrotz nötigten mir die Menschenansammlungen vor den Check-in-Schaltern doch ein paar interessante Beobachtungen ab. In meiner langandauernden Zweisamkeit mit Gustav hatte ich die Lebensart seiner Artgenossen ein wenig aus den Augen verloren, zumal er vollkommen aus der Art geschlagen war. Nun sah ich zu meinem Entsetzen, daß diese urlaubshungrigen, leichtbekleideten Menschen allesamt tätowiert waren. Unglaublich, diese geschmacklose Entweihung des eigenen Körpers, die einst von Matrosen und Zuchthäuslern gepflegt wurde, war in der Zwischenzeit zum Schönheitsideal mutiert! Ich machte im Geiste einen Zeitsprung von dreißig, vierzig Jahren in die Zukunft und in ein Altersheim, wo parkinsongeschädigte, an Inkontinenz leidende Greise durch ihre welken Körperbemalungen auf verschrumpelten Fleischwülsten bei den Pflegern immer wieder für Heiterkeitsausbrüche sorgten. Und auch die Angestellten des Bestattungsunternehmens hätten ihren Spaß.

Was ebenfalls auffiel, war der grassierende Glatzenwahn bei den Männern, selbst bei denen, die gar keine Glatze hatten. Sie alle hatten nämlich ihre Birnen kahl rasieren lassen, was sie nicht nur verwechselbar machte, sondern in dieser Gehäuftheit wie ein Stilleben von Deostiften aussehen ließ. Hätte der gute alte Bruce Willis damals geahnt, was er auslösen würde, als er aus seiner Not eine Tugend machte und die drei Halme auf seinem Schädel auch noch zu fällen beschloß, hätte er sich wohl lieber einen verdammten Mob auf die Kopfhaut getackert!

Gustav watschelte zum Schalter und ließ sich sein gebuchtes Ticket geben. Er checkte ein und begab sich in die Menschenschlange vor der Sicherheitskontrolle. Da jedoch wurde es plötzlich ziemlich turbulent. Bevor er durch die Metalldetektorschleuse ging, wuchtete er den Rucksack auf das Förderband, das die Gepäckstücke zum Durchleuchtungsgerät transportierte. Das tat er übrigens derart rabiat, daß ich drinnen ein paar Mal um die eigene Achse geschleudert wurde. Ich muß gestehen, daß mein großartiger Plan nur bis zu diesem Punkt reichte. Gierig auf die Aussicht, einmal im Leben die Traumstadt zu sehen, hatte ich die unvermeidlichen Herausforderungen auf dem Weg dorthin völlig verdrängt. Jetzt war Improvisationstalent gefragt, denn als der Rucksack in die Durchleuchtungskammer fuhr, sah ich schon das Gesicht des Sicherheitsmannes draußen vor seinem Monitor vor mir. Seine auf die fixe Erkennung von Kalaschnikows und vielleicht auch einer zusammenklappbaren Atombombe geschärften Glubscher traten in diesem Moment bestimmt einen Zentimeter weit aus ihren Höhlen. Sie erblickten nämlich im Bauch des Rucksacks etwas, was sie noch nie zuvor erblickt hatten: das (sich bewegende) Skelett eines Tieres, umgeben von einer kunterbunt leuchtenden Silhouette aus scharfen Krallen, spitzen Ohren – und Augen, die ihn geradewegs anstarrten!

Im gleichen Moment hörte ich auch schon die Sirene jaulen. Der Sicherheitsmann hatte sich von seinem Schreck erholt und den Alarmknopf betätigt. Nun hieß es schnell reagieren. Nur wie? Und in welche Richtung? Ich sprang behende aus dem Rucksack auf das Förderband.

Die allgegenwärtige Finsternis machte mir nichts aus, rühme ich mich doch trotz meines fortgeschrittenen Alters Augen, die ebenso alles zu durchleuchten vermögen.

Direkt vor mir hing der Vorhang aus Gummifransen, der die optimale Verdunkelung für die Abtastung gewährleisten sollte. Ich streckte den Kopf hervor und sah unmittelbar vor meiner Nase eine offenstehende große Ledertasche, die dem Rucksack voranrollte. Würde der Besitzer meine wenigen Kilos spüren, wenn ich da hineinflüchtete und er die Tasche wieder zu sich nahm?

Einerlei, es blieb jetzt keine Zeit mehr für knifflige Spekulationen.

Blitzschnell huschte ich in die Tasche hinein. Denkbar knapp, denn kaum war ich drin, wurde sie auch schon vom Förderband gehoben und ohne Umschweife weggetragen.

Ich konnte nur hoffen, daß mein Retter ebenfalls die Reise nach Rom antrat. Trotz der prekären Lage ließ ich es mir nicht nehmen, den Kopf herauszustrecken und zurückzuschauen. Vier Sicherheitsleute stürzten sich auf den aus der Dunkelkammer kommenden Rucksack und nahmen dessen Inhalt mit solcher Hingabe auseinander, als weideten sie ein Schwein aus. Gustav stand fassungslos daneben, betrachtete ungläubig das Treiben, und weil er sich jetzt tatsächlich wie der Schmuggler einer zusammenklappbaren Atombombe vorkam, nahm er am Ende auch noch die Hände hoch.

Ich sah noch, wie sich die Lage zu entspannen begann, als man im Sack weder ein Tier noch dessen Gerippe fand und wohl von einer optischen Täuschung oder einer Störung am Gerät ausging. Gleichwohl verriet Gustavs dämlicher Gesichtsausdruck, daß er eine geheimnisvolle Ahnung hatte, ohne zu wissen, welche.

Mein Blick schweifte entlang der Hand am Griff zum Besitzer der Tasche hoch. Wie schön, ich wurde von einem jungen Gottesmann getragen. Der schwarze Anzug mit der runden weißen Halskrause, die ein wenig über den Hemdkragen hinauslugte, bezeugte es. Es war ein junger Mann von blendendem Aussehen. Sein Gesicht glich dem eines Engels auf einem präraffelitischen Gemälde, und allein die goldrandige Brille wies auf etwas Irdisches hin.

Das Haar mit Gel elegant nach hinten gekämmt, so daß es in dünnen Strähnen glänzte, die feingliedrigen Hände von solcher Makellosigkeit, als verzichteten sie keinen einzigen Tag auf Maniküre und erlesene Cremes. Um seinen Hals baumelte ein silbernes Kruzifix, das jedoch wie ein modischer Schmuck wirkte. Früher hätte man einen solchen Typ Yuppie genannt. Aber wer weiß, vielleicht hatten die Yuppies nach all den in die Hose gegangenen Booms um Börse und Internet inzwischen ihr Heil tatsächlich beim lieben Herrgott gesucht.

Während er die Abflugwartehalle ansteuerte, sprach er mit einem anderen Anzugträger neben sich. Dieser war allerdings im gesetzten Alter und allem Anschein nach kein Geistlicher. Im Gegenteil, ein Militärabzeichen am Jackenrevers des schlohweißhaarigen, kantigen Mannes zeichnete ihn als einen Angehörigen der US-Army aus.

Wenn mich mein jahrelanges Studium von Fernsehserien nicht täuschte, sogar als ein hohes Tier in dem Verein. Die Unterhaltung der so unterschiedlichen Gestalten drehte sich um einen Termin in irgendeiner Kirche. Aber ich hörte gar nicht richtig hin, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, herauszubekommen, wohin man mich trug. Irgendwann trennten sich die Wege der beiden Männer, und, o gütiges Wunder, auf der Informationsanzeige über mir tauchte die Leuchtschrift »Rom« auf!

Ich konnte von Glück reden, daß mein neuer Partner die Tasche nicht im Gepäckfach der Maschine deponierte, sondern neben sich auf den freien Sitz stellte. Die Unterbringung in einer weiteren Dunkelkammer hätte in mir bestimmt ein irreparables klaustrophobisches Trauma ausgelöst. Erfreulich auch, daß er Business Class flog, als hätte er gewußt, wieviel Wert ich auf standesgemäßes Reisen lege. Das dummdreiste Proletengeschwätz eines All-inclusive-Touristen einschließlich seines ständigen Bimmelns nach der Stewardeß für billigen Fusel im Plastikbecher hatte ich mir auf diese Weise erspart. Aber der glücklichen Fügungen kein Ende. Der Herr Pfarrer kam kein einziges Mal in die Versuchung, in die Tasche zu greifen und so den blinden Passagier zu entlarven.

Soweit ich es aus dem Schlitz erkennen konnte, tippte er mit einem Kunststoffstift den ganzen Flug über an irgendwelchen komplizierten Berechnungen in einem hypermodernen Notebook. Vermutlich rechnete er den heutigen Ertrag des Klingelbeutels zusammen. Nach etwa einer Stunde und einer halbangeknabberten Portion Hummerfleisch stand er auf und ging zur Bordtoilette.

Endlich erspähte ich die Chance zum Luftholen und hob den Kopf zur Gänze aus der Tasche. Da ich fast den ganzen Tag keinen Bissen zu mir genommen hatte und bereits halluzinierte, wie ich eine ausgewachsene Seekuh anfallen und sie mit Knochen verspeisen würde, wollte ich mich schnell an dem Übriggeblieben Hummer gütlich tun, bevor der Gottesmann zurückkehrte.

Was er sich dann beim Anblick der blitzblank geleckten leeren Kunststoffschale auf seinem Tablett denken würde, war mir inzwischen so schnuppe, wie wenn das Flugzeug anstatt in Rom in Bagdad landete. Also kroch ich aus der Tasche heraus, stellte mich mit den Vorderpfoten auf die Armlehne und streckte meine Schnauze nach dem Leckerbissen auf dem Klapptisch.

In diesem Augenblick fiel ein Schatten auf mich. Ein ungemein großer Schatten. Und ein vertrauter! Gustav, vom hinteren Teil der Maschine kommend und offenbar ebenfalls unterwegs zur Bordtoilette, schaute mir direkt in die Pupillen. Sein Mienenspiel hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem eines gerade vom Traktor angefahrenen Ochsen. Die Augen hatten sich zur Größe von Espresso-Tassen geweitet, und seine Lippen bewegten sich, ohne einen Laut hervorzubringen. Spontan ausgebrochener Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Francis …«, sagte er schließlich. Und dann kopfschüttelnd immer wieder: »Francis? Francis? Francis? …«

Da ich davon ausging, daß er meinen Namen schon kannte, hielt ich es nicht für nötig, ihm zu antworten.

Plötzlich machte er mit dem Kopf eine Bewegung wie ein bizarrer Vogel. Er lachte erleichtert auf und begann ein gemurmeltes Selbstgespräch, das, wie es schien, der Selbstversicherung diente. Daß das, was er sähe, gar nicht möglich wäre, weil sein Liebling ja meilenweit woanders untergebracht sei, und zwar sehr gut, und nebenbei bemerkt auch sehr teuer, aber diese Ähnlichkeit, also wirklich, wenn er es nicht genau wüßte, würde er meinen, sein kleiner Francis wäre ihm direkt zum Flughafen gefolgt, was natürlich lächerlich sei, denn wie sollte so etwas wohl funktionieren …

»Ich habe zu Hause auch einen von deiner Sorte«, beendete er schließlich laut seinen Monolog.

»Ich auch von deiner Sorte!« entgegnete ich.

Das tat ich natürlich nicht, sondern dachte es mir nur, bevor Gustav mir noch zuzwinkerte und ging. Hätte ich die anatomische Möglichkeit gehabt, hätte ich mich nach dieser stressigen Episode dreimal bekreuzigt. Oder ich hätte mich mit dem Teufel verbündet, was angesichts der mich erwartenden Einblicke in die Hölle in der Stadt der Engel angebrachter gewesen wäre.